Wie fühlt es sich an, als hochsensibler Mensch seinen Alltag zu gestalten? Ich möchte hier einmal einen fiktiven Tag im Leben einer Hochsensiblen beschreiben. Vielleicht erkennen sich viele von Euch wieder...
Die hochsensible Klara wird morgens durch ihren Wecker geweckt, direkt danach hört sie ein Rummsen in den Wänden, jemand hat eine Haustür zugeworfen. Unten auf der Straße ist seit einigen Tagen eine Baustelle, der Lärm ist durch das geöffnete Fenster zu hören. Klara steht auf mit einem aufgeregten Gefühl, ihre Muskeln haben sich ein bisschen angespannt. Sie achtet aber nicht weiter darauf, denn sie ist diesen leichten Spannungszustand seit Jahren gewohnt. Sie wohnt in der Stadt in einer Mietwohnung. Unerwartete laute Geräusche sind an der Tagesordnung. Klara kennt es nicht anders.
Sie geht ins Badezimmer und macht ein kleines Radio an. So hört sie wenigstens ihre eigenen Geräusche, nicht die der Nachbarn. Klara denkt aber bewusst darüber gar nicht nach, das Radio gehört zu ihrem Alltag. Der Sender ist nicht ganz sauber eingestellt und es gibt kleine Störungen. Klaras Nervensystem registriert das, Klara selbst allerdings nicht.
Klara macht sich einen koffeinfreien Kaffee, den "normalen" verträgt sie nicht gut. Er macht sie sehr nervös. Sie weiß, dass ein gutes Frühstück sehr gut sein soll für den Körper. Aber irgendwie schafft sie es oft nicht, sich wirklich ein Frühstück zu machen. Sie sitzt dann mit ihrer Tasse Kaffee am Tisch und sinniert vor sich hin, "schaut Löcher in die Luft", wie ihre Eltern oft zu ihr sagten. Sie selbst nennt es träumen mit offenen Augen. Sie mag diesen Zustand sehr gerne. Plötzlich sieht sie auf die Uhr, höchste Zeit, sich für die Arbeit fertigzumachen. Sie kann dann später ja noch etwas essen.
Jacke angezogen und ab zum Bus. Sie schafft es gerade noch bevor sich die Türen schließen. Da gibt es auch noch einen Sitzplatz. Klara freut sich und setzt sich. Dann bemerkt sie hinter sich eine laute Stimme, jemand spricht per Handy. Und eine Wolke eines Parfums weht ihr in die Nase. Einen Moment lang fürchtet sie, dass ihr übel wird. Parfüm kann sie nicht riechen, sie weiß auch nicht, warum. Also steht sie wieder auf. Der Bus ist ziemlich voll so dass sie den Rest der Fahrt stehen muss. Ihr direkt gegenüber steht eine Mutter mit einem Kinderwagen, der Kleine schreit die ganze Fahrt über. Klara mag Kinder, aber als sie aussteigt ist sie sehr erleichtert.
Sie arbeitet in einer größeren Firma, geht zu ihrem Schreibtisch, der einer anderen Mitarbeiterin gegenüber steht. Die beiden verstehen sich sehr gut und tauschen sich auch einmal über ein paar private Themen aus. Klara hat aber in der letzten Zeit etwas entdeckt: wenn die Kollegin unruhig oder gestresst ist dann wird sie selbst es auch. Sie kann sich nicht einfach innerlich sagen, das ist jetzt meine Kollegin Brigitte, der es so geht. Wie durch Zauberhand fühlt sich Klara oft genauso wie Brigitte.
Und ihr ist aufgefallen, dass auch im Gespräch mit anderen Kollegen und Kolleginnen manchmal dasselbe passiert. Zum Beispiel hatte Uschi neulich einen Todesfall in der Familie. Als Klara zu ihr hinüberging spürte sie plötzlich eine große Traurigkeit obwohl sie noch kein Wort mit Uschi gewechselt hatte. Klara hat über diese Erlebnisse noch nicht nachgedacht. Sie findet sie eigenartig.
In der Mittagspause gibt es eine warme Mahlzeit in der Kantine. Einige der Zutaten verträgt Klara nicht, sie hat aber inzwischen gelernt, sie zu vermeiden. Was ihr allerdings zunehmend auffällt, ist der Geräuschpegel in dem großen Raum. Die Wände werfen alle Gespräche und Geräusche zurück, es entsteht ein Klangteppich. Er hüllt Klara ein wie eine Wolke. Und aus irgendeinem Grund mag sie das nicht mehr sehr gerne. Sie isst also schnell ihre Mahlzeit und geht noch zu einer Zigarette nach draußen. Ja, sie raucht, es ist ungesund aber... macht ihr irgendwie auch Spaß. Der Rauch hüllt sie ein und diese Zeit, in der sie raucht gehört ihr und nur ihr.
Nachmittags entsteht ein Streit in einer anderen Abteilung. Klara kommt zufällig darauf zu als sie einige Papiere hinbringt. Zwei Kollegen werden sehr laut, sie hat es gar nicht kommen sehen und ist erschreckt. Mitten im Raum bleibt sie stehen und weiß nicht, was sie nun tun soll. Die Stimmen der Männer dröhnen in ihren Ohren, sie sieht die Gesichter und die Gesten wie in Großaufnahme im Kino. Und sie fühlt sich irgendwie betroffen und fast verantwortlich, obwohl sie mit der Sache gar nichts zu tun hat. Die beiden Kollegen beachten sie gar nicht. Klara schleicht sich aus dem Raum.
Zurück an ihrem Schreibtisch schaut Brigitte sie mitfühlend an. "Du siehst aber mitgenommen aus," sagt sie, "nimm´ doch nicht alles so schwer... einfach an dir abperlen lassen!" "Wenn das so einfach wäre..." gibt Klara seufzend zurück. "Du brauchst einfach ein dickeres Fell!" sagt Brigitte mit Überzeugung. Das hat Klara schon öfter gehört. Sie seufzt wieder, diesmal ohne etwas zu erwidern.
Der Chef kommt noch mit einer eiligen Sache an ihren Schreibtisch. Klara ist nun etwas nervös und vertippt sich. Das wiederholt sich ein paar Male, Klara fragt sich, was mit ihr los ist. "Konzentrier´ Dich, Du Dussel," sagt sie sich. Das macht es aber auch nicht besser. Nach einigen neuen Anläufen findet sie in ihre normale, leichte Form der Sprache. Endlich kann sie das gewünschte Papier dem Chef in den Metallkorb legen wo er ihn morgen finden kann. Feierabend.
Einige Kollegen fragen sie, ob sie Lust hätte, noch etwas gemeinsam trinken zu gehen. Gerne wäre sie dabei aber sie weiß genau, dass es ihr zu viel werden wird, dass sie nach einer Weile in der Kneipe sitzen wird und nur noch den Wunsch hat, für sich zu sein. Sie sagt ab, nicht zum ersten Mal. Die Kollegen haben sich daran gewöhnt und werden vielleicht bald nicht mehr fragen. Klara spürt eine Traurigkeit.
Der Bus nach Hause fährt ihr vor der Nase weg. Nachdem sie sich eine Weile geärgert hat besinnt Klara sich auf ihre Fähigkeit, Pausen zu genießen. Sie nennt das "Zwischenzeiten". Das sind Zeiten, in denen es nichts zu tun gibt außer da zu sein. Sie steht an der Haltestelle und schaut in die Runde. Ein alter Mann läuft an ihr vorbei mit einem braunen Mantel, der schon bessere Tage gesehen hat. Eine Mutter mit Kind geht über die Straße, das Mädchen ist quengelig und will nicht mit. Klara fühlt mit der gestressten Mutter, die noch dazu von den Wartenden an der Bushaltestelle beobachtet und sicher auch bewertet wird. Ein leichter Nieselregen setzt ein, die Umstehenden machen finstere Gesichter, Klara spürt einfach die Feuchtigkeit, riecht den frischen Duft der Luft und atmet tief ein. Sie denkt gar nichts und fühlt sich träumerisch leicht. Da ertönt eine Hupe, Klaras ganzer Körper zieht sich blitzartig zusammen.
Sie ist noch erschrocken als der Bus vor ihr hält und die Leute sich drängeln, um einen Platz zu ergattern. Klara hat das Nachsehen.
Zu Hause macht sie sich erst mal eine Tasse Tee, das ist fast ein Ritual für sie. Jetzt ist ihre freie Zeit, sie legt die Füße hoch und sieht aus dem Fenster. Im Hof hat sie Futter und Wasser für die Vögel aufgestellt, draußen sieht sie einen Spatzen beim baden. Er hat offensichtlich Freude dabei und sieht so niedlich aus. Klaras Herz schlägt höher, sie spürt, wie ihr Tränen in die Augen steigen. "Heulsuse", nennt sie sich selbst leise, so wie früher immer ihr Vater. Andere weinen doch auch nicht bei jeder Gelegenheit.
Dann kommt ein gefürchteter Augenblick, jeden Tag hofft Klara, dass alles ruhig bleiben möge. Leider hat sie nicht immer Glück. Nebenan in der Nachbarwohnung ertönt Musik, die Bässe dröhnen, so dass sogar der Boden leicht mitvibriert. Klara ist nun in höchster Alarmstimmung. Sie hat schon mit vielen Leuten über das Problem gesprochen. "Ja, in Mietwohnungen ist alles hellhörig", lauten die Antworten oder "Sag doch einfach mal Bescheid...". Klara hat dem jungen Mann, der dort wohnt, schon gesagt, dass seine Musik sehr laut wäre und ihn gebeten, sie doch etwas leiser zu spielen. Er drehte kurz den Regler herunter und am nächsten Tag war die Musik wieder genau so laut wie vorher. "Da kannst Du nichts machen, zieh´ doch um..." sagten ihre Bekannten.
Umgezogen ist sie schon einige Male. Überall gab es jemanden, der zu laut war.
Klara macht selbst Musik an, damit sie nichts mehr hört. Irgendwann abends ist dann Ruhe. Sie hat noch etwas ferngesehen und ihre Mails gelesen. Als sie dann endlich im Bett liegt steckt sie sich wie immer Pfropfen in die Ohren. Nur so, für alle Fälle. Klara liebt die Nacht, ihr Körper entspannt sich und Klara bekommt ein ganz warmes, liebevolles Gefühl. Wenn es doch immer so schön sein könnte...