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Ausgabe Text Der letzte Tagphoto
"Ich habe Dich beobachtet!" Der Satz wehte durch Emmas Kopf wie ein dünner, durchsichtiger Schleier, kaum greifbar. Wann hatte das angefangen? Wann hatte sie den Gedanken zum ersten Mal gedacht? Sie konnte sich nicht erinnern. Eine Frage stahl sich in ihr Bewusstsein: war sie es, die diesen Satz dachte? Wurde sie angesprochen? Von wem?

Emma sah sich um. Sie war fast allein auf der Straße. Die Dämmerung hatte eingesetzt, ein warmes Rosa lag auf dem Asphalt und spiegelte sich in den Scheiben der Geschäfte. Emma atmete durch. Sie mochte diese Zeit des Tages. Alles wurde ruhiger, die Menschen gingen nach Hause, in ihre eigenen kleinen Welten.

Und meine Welt, dachte sie, ist sie noch wie vorher? Seit dem Morgen hatte sie so ein Gefühl, ein unangenehmes, untergründiges Gefühl von Verunsicherung. Eigentlich konnte sie es sich nicht recht erklären. Heute Morgen war sie wie immer aus dem Haus gegangen, hatte sorgfältig abgeschlossen, noch einmal geprüft, und war dann gegangen. Alles war wirklich wie immer. Der Hund am Eckhaus hatte ihr Vorbeigehen mit lautem Bellen registriert. Die Nachbarin einige Häuser weiter hatte ihre Wäsche draußen aufgehängt, Emma sah es durch den schmalen Durchgang, der in den hinteren Garten führte. Eine Krähe hüpfte über ihren Weg ohne sie zu beachten.

Der Tag war vergangen. Emma hatte sich entschieden, eine Weile im Park zu verbringen und ihren kleinen Picknickkorb mitzunehmen. Im Frühling, Anfang Mai, war das schon durchaus möglich. Der Park grenzte an die Straße, auf der sie jetzt ging. Sie sah auf die andere Seite. Der Mann dort drüben, wie lange stand er schon dort? "Ich habe dich beobachtet!" Nein, dachte Emma, nein. Mit einer entschiedenen Drehung wandte sie sich in die entgegengesetzte Richtung. Sie würde nun auch nach Hause gehen. Zu Hause war es schön. Zu Hause war es sicher. Emma hörte ihre Schritte auf dem Pflaster, laut wurden sie von den Häuserwänden zurückgeworfen. Die Schuhe, dachte sie, ich wollte sie schon längst zur Reparatur geben. Auf dem Weg begegnete ihr niemand mehr. Eine leichte Abendbrise hatte eingesetzt, sie strich sanft um Emmas Haut. Weit oben erschienen die ersten Sterne.

Als sie in ihre Straße einbog erschrak sie. Vor ihrem Haus standen Menschen und sprachen miteinander. Irgendetwas hatte sie offensichtlich in Aufregung versetzt. Emma erkannte einige ihrer Nachbarn, eine Frau hatte ihre Küchenschürze noch nicht abgebunden. Vielleicht sollte ich abwarten, bis alle wieder gegangen sind, dachte Emma und stellte sich halb hinter einen der Hausvorsprünge, die dieser Wohngegend ihr Gesicht gaben. Diese Unruhe mag ich nicht. Sie wartete. Der Abend senkte sich mit Kühle und länger werdenden Schatten herab.

Nach und nach löste sich die kleine Traube von Menschen auf und auch ein Polizeiwagen verschwand endlich in der Dunkelheit. Die Polizisten hatte Emma anfangs gar nicht bemerkt. Jetzt war sie froh, als sie abfuhren. Angenehme Stille. Emma wagte einige Schritte aus ihrem Versteck. Der Hund vom Eckhaus stand plötzlich vor ihr und bellte. "Psst", sagte Emma, "es ist doch alles gut." Sie ging weiter zu ihrem Haus, die misstrauischen Augen des Hundes verfolgten sie.

Die Haustür war verschlossen. Emma probierte es mehrmals, sie verstand das nicht. Nein, der Schlüssel passte nicht mehr in das Schloss oder jemand hatte von innen abgeschlossen. Wie war das möglich? War die Polizei etwa in ihr Haus eingedrungen und hatte sie ausgesperrt? Morgens hatte alles einwandfrei funktioniert. Emma hielt einen Augenblick inne und dachte nach. "Ich habe dich beobachtet." Emma schnellte herum. Da, dort drüben im Schatten, stand der Mann von vorhin. Sie sahen sich an. "Seit wann?", fragte Emma, "Seit wann hast du mich beobachtet?"

"Seit es geschehen ist." Die Antwort kam prompt, der Fremde bewegte sich nicht. Emma hörte ihren Atem, fühlte, wie sich ihre Brust schwer hob und senkte. Geschehen, geschehen..., der Satz teilte sich auf in Worte, die Worte wiederholten sich in Emmas Kopf und verloren ihren Sinn. Es war so viel geschehen in ihrem Leben. Sie wollte nicht daran denken. Die Worte verwandelten sich in dünne, fast durchsichtige Schleier und verschwanden in der Dunkelheit.

"Komm´, lass uns gehen", sagte der Fremde. Hatte er es laut ausgesprochen? In Emma wurde etwas still. Vielleicht war es gut zu gehen. Sie hatte immer alles gewusst. Jetzt wusste sie nichts mehr. Eigenartig, das fühlte sich leicht und richtig an. Nebeneinander gingen Emma und der fremde Mann bis zum Tor des Friedhofs und die Nacht nahm sie auf. Emma war fort.
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