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Ausgabe Text Auf der Suche nach der Tiefe des Lebensphoto
Juni 2017

Wie wir dem Hamsterrad unseres Alltags entkommen

Höchstleistungen? Gelten als selbstverständlich. Manchmal, wenn wir innehalten, haben wir das bittere Gefühl, dass all unsere Leistungen als selbstverständlich gelten: Dass wir einen guten Job haben und in diesem erfolgreich sind. Dass wir dafür nicht nur von der Schule bis zum Doktortitel eine gigantische Leistung hinlegen, sondern uns auch noch laufend fortbilden, verhandlungssicher Englisch sprechen und in der Welt der neuen Medien zu Hause sind. Außerdem scheint die tolle Eigentumswohnung selbstverständlich und dass originelle Reisen unsere Freizeit bereichern. Und dann noch, dass wir uns um unsere Eltern kümmern und unsere Kinder fördern und ihnen Urvertrauen und Zuversicht vermitteln. Das erfolgreiche, das gelingende Leben, es ist vor allem eines: entsetzlich anstrengend. Doch auf unsere Spitzenleistung schauen wir seltsam nüchtern. Fehlt etwas davon, sehen wir einen Mangel. Haben wir das alles, sind wir gerade mal zufrieden. Aber nicht besonders glücklich. Es ist, als könnten wir die Fülle unseres Lebens nicht auf der Habenseite verbuchen, sondern würden immer nur notdürftig ein Soll damit stopfen. Kann es sein, dass wir in einer hochentwickelten Gesellschaft, in Wohlstand und Freiheit, in einem irrwitzigen Zustand gefangen sind: keine Zeit, keine Kraft und immer das Gefühl, nicht mehr hinterherzukommen? Was fehlt uns eigentlich?

Der Traum vom Aussteigen: eigene Maßstäbe setzen statt fremde Maßstäbe zu erfüllen

Sind wir vielleicht durch die Zwänge unserer Arbeitswelt allzu sehr fremdbestimmt? Können wir stattdessen nicht unser Hobby zum Beruf machen? Was tue ich so gern, dass ich es spielerisch tue und deshalb auf diesem Gebiet besser bin als alle anderen? Schlummert in uns die Geschäftsidee für ein start-up Unternehmen oder das Talent für eine erfolgreiche Existenz als Künstlerin? Sicher, das Träumen nicht aufzugeben ist immer richtig. Doch der alles beherrschenden Steigerungslogik zu entkommen ist nicht so leicht. Aus zwei Gründen: Zum einen zünden wir in unserer start-up Phantasie sozusagen nur den Turbo. Indem wir endlich tun, was wir gern tun, versuchen wir, das Rennen zu gewinnen und der Masse zu entkommen. Es geht also weiter um Konkurrenz. Zum anderen sind wir keineswegs frei bei der Wahl unserer Geschäftsidee, denn jemand muss ja dafür zahlen wollen. Wir können den perfekten Käsetoast für unsere Lieben kreieren? Kochbücher dafür gibt es schon viele, wer soll unseres noch kaufen? Der Traum, dem Hamsterrad zu entkommen, indem wir endlich tun, was wir am besten können, ist sympathisch, aber schwer zu erfüllen. Zumindest muss uns klar sein, dass wir dabei meist keine wirklich neuen Maßstäbe setzen. Sondern wir erfüllen die alten nur auf maximal individualisierte, auf uns selbst zugeschnittene Weise.

Problematische Antworten auf richtige Fragen. Auf der Suche nach der Tiefe des Lebens.

Aber sollen wir denn alle Asketen werden? Ist unser Wunsch nach der Fülle des Lebens nicht berechtigt? Doch, sich nach der Fülle des Lebens zu sehnen, daran ist nichts Verwerfliches, das ist ein richtiger Impuls, das ist gewissermaßen die richtige Frage. Doch unsere Hochleistungsexistenz ist eine sehr problematische Antwort auf diese richtige Frage, darum geht es mir. Weder das (oft auch befriedigende) Arbeiten ist das Problem noch der Wunsch nach der Fülle. Aber die Überanstrengung unserer selbst kommt offenbar daher, dass wir trotz aller Leistung nie das Gefühl haben, genug zu tun. Nämlich nicht genug, um uns gut zu fühlen, so wie wir sind. Nicht genug, um die Tiefe des Lebens zu spüren. Um uns verbunden zu fühlen mit den anderen, mit dem Ganzen. Nicht genug, um dieses Ganze zu lieben und einen Sinn zu empfinden. In diesen Bereich gelangen wir offenbar nicht durch Anstrengung. Unserer Hochleistungsexistenz fehlt etwas.

Als Philosoph ist dies meine Hypothese: Wir haben den Kontakt mit der Tiefe unseres Lebens verloren. Genauer: Die Fülle des Lebens, die wir zurecht ersehnen, wir suchen sie in der falschen Richtung, nämlich im ‚Immer-mehr‘, im Machen und Aktivsein, wir suchen sie als das schöne Erlebnis, das frei ist von Schmerz und wir suchen sie in der ständigen Reflexion und Vervollkommnung unserer selbst. Unsere Suche folgt der Logik der Steigerung. Doch finden würden wir die ersehnte Fülle vielleicht eher in einer anderen Richtung, nicht im Mehr, sondern in der Tiefe. Nämlich überall dort und immer dann, wenn wir spüren, wie die Welt auch ohne unser Machen von selbst geschieht, wenn wir fühlen, wie unsere Verbindung zu den anderen und zur ganzen Welt notwendig auch schmerzlich ist. Und wenn wir einmal merken, wie frei wir uns fühlen, sobald wir keinem Klischee mehr entsprechen, sobald wir keinem Idealdruck mehr gehorchen müssen. Die Tiefe des Lebens, das ist die Verbindung mit jener Schicht unserer Existenz, die tief unter unserem individuellen Ich liegt und uns hier wiederum verbindet mit allem anderen. Hier scheint es etwas Wesentliches zu geben, etwas Einfaches, das aber gerade nicht einfach zu haben ist.

Beschreibend die Tiefe des Lebens öffnen

Meine Absicht ist nun, dieses Einfache, was ich mit der Tiefe des Lebens meine, möglichst genau zu beschreiben und zu veranschaulichen und dadurch zugänglich und nachvollziehbar zu machen. Liest man die Beschreibung, dann soll etwas, das man selbst schon erlebt hat, nach-erlebbar werden – nämlich als ein Aspekt der Tiefe des eigenen Lebens. Als etwas, das einem immer schon gehörte. Sich für dieses Eigene zu öffnen beim Lesen meiner Beschreibung, das ist mein Ziel. Doch dabei gibt es eine Schwierigkeit: Die Dimension, um die es geht, und die Begriffe, die man zu ihrer Beschreibung verwendet, sie sind besetzt durch Religion, Metaphysik, Psychologie und andere Weltdeutungen. Geht es um die Tiefe des Lebens, fühlt man sich sogleich an diese Weltdeutungen erinnert. Und zu Unrecht kann der Verdacht aufkommen, ich wolle auf diese oder jene Weltdeutung hinaus. Doch dies ist nicht der Fall. Wenn ich etwa von Liebe oder Verbindung spreche, dann möchte ich beides einfach als Aspekte der Tiefe des Lebens beschreiben und meine weder psychologische noch religiöse Modelle von Liebe und Verbindung. Meine Beschreibungen gehören vielmehr in die Tradition der Phänomenologie, jener philosophischen Richtung, die um die Wende zum 20. Jahrhundert entstand und die bis heute neue Ansätze hervorbringt. Hier sollen die Phänomene möglichst als sie selbst und das heißt diesseits aller Weltdeutungen beschrieben werden. Denn alle Modelle, so die phänomenologische Entdeckung, überholen und überformen unsere Erfahrungen und können deren spezifische Qualität zum Verstummen bringen. In diesem Sinne seien drei Aspekte beschrieben.

Die Tiefe des Lebens geschieht, wir können sie nicht machen.

Wenn wir sagen, dass wir uns nicht selbst hervorgebracht haben, dass uns unsere Geburt gewissermaßen geschehen ist, dass uns auch unser Tod geschehen wird, dass Kinder eigentlich immer irgendwie zur unrechten Zeit kommen, dass sie sich in unser Leben drängeln (um es dann zu bereichern) – wenn wie so sprechen, dann verlassen wir bewusst die 3.-Person Perspektive. Von außen können wir Ereignisse unseres Lebens aufzählen, aber wir erreichen dabei nicht den Sinn, den wir ausdrücken möchten. Nur ‚von innen‘ können wir angemessen davon sprechen, was es heißt zu leben: Vieles machen wir, aber Wesentliches ‚macht uns aus‘ und widerfährt uns. Etwa auch die basalen Lebensvorgänge: In der Meditation spüren wir, dass ‚es‘ uns atmet. Und unser Körper erhält sich irgendwie selbst, wird erhalten – jedenfalls können wir ihn, wenn wir krank sind, nicht selbst flicken wie ein Fahrrad. Auf einer sehr basalen Ebene geschieht unser Leben, es geschieht: uns. Auch die Liebe geschieht. Menschen treten durch Zufall in unser Leben und werden unser Schicksal. Oder eine Liebe geschieht gerade nicht. Das unendlich Begehrte, das unter Tränen Beschworene, versagt sich uns endgültig. Es lässt sich nicht erzwingen. Bittere Lektionen, Lektionen der Ohnmacht – dann aber auch Lektionen der staunenden Dankbarkeit, wenn sich neue Türen öffnen, wo wir bisher vielleicht gar keine Türen gesehen hatten.

Transformationen: Gerade haben wir gelernt, wie sich in einer bestimmten Lebensphase gut leben lässt, schon müssen wir sie wieder verlassen, werden wieder Novizen des Lebens. Hatten wir uns unser Leben irgendwann einmal vorgestellt wie die Landschaft einer großen Modelleisenbahn und uns selbst als die Erbauer dieses spannenden kleinen Paradieses? Viel zu schön kommt uns dies jetzt vor, aber auch viel zu langweilig. Zu schön, weil wir eben nicht als souveräne Kapitäne unser Lebensschiff über die Weltmeere lenken. Sondern eher auf einem schwankenden Floß den Lebensfluss hinuntersausen und oft nicht viel mehr tun können als nicht zu kentern. Zu langweilig – weil wir der Tiefe des Lebens eben nur teilhaftig werden, wenn wir uns für sie öffnen. Und dies bedeutet, uns für unser Leben zu öffnen als für ein Geschehen, dessen tiefe Rhythmen wir nicht selbst machen, denen wir aber lebend entsprechen können.

Sich öffnen für diese Tiefe – was müssen wir dafür tun? Vermutlich bedarf es hier weniger unseres Leistungs-, Konzentrations- und Durchhaltevermögens. Solange wir am Aktivitätsmodus festhalten und die Dinge als neutrales oder gar totes Material wahrnehmen, mit dem nur etwas passiert, wenn wir etwas aktiv damit anfangen, solange müssen wir jene Tiefe des Lebens übersehen, welche gerade in seinem Geschehenscharakter besteht. Sich für diesen zu öffnen, das verlangt andere Fähigkeiten, nämlich eine Sensibilität, die sich immer wieder schutzlos macht, eine zugleich leidensbereite und dankbare Empfänglichkeit. Wir müssen bereit sein für den schmerzhaften Abschied von allzu autonomen Selbstbildern. Dann können wir immer wieder in unserem Leben eine Blüte entdecken, die wir nicht aus Plastikteilen selbst zusammengesteckt haben, sondern die echt ist – und sich vor uns entfaltet und vor uns verblüht.

Mit dem Ganzen verbunden – auf schmerzhafte Weise

Ein weiterer Aspekt: Dass wir tief verbunden sind mit etwas, das über uns hinausgeht, mit den wichtigen Menschen unseres Lebens und darüber hinaus überhaupt mit allem, mit dem Ganzen des Seienden, es scheint nicht ohne Schmerz zu haben zu sein. Hier gilt: Fliehen wir den Schmerz, flieht uns die Tiefe des Lebens. Ein erstes Beispiel: Der Philosoph Paul Ricoeur hat die Struktur eines existenziellen Versprechens untersucht. Es geht um das Versprechen, das wir als Eltern unseren Kindern geben, das wir als Partner einander geben oder das wir einem (Kunst-)Werk geben, das wir vollenden müssen. Immer gibt es dabei Zeiten, in denen das Ganze zu scheitern droht, Zeiten, in denen wir unser Versprechen zurücknehmen möchten. Doch mit unserem Anfangsversprechen haben wir etwas in Gang gesetzt, das über uns hinausgeht. Wir können auch sagen: Unsere Unschuld hinter uns lassend haben wir uns tief in eigenes und fremdes Leben eingegraben. Dadurch ist etwas Neues, Anderes entstanden: außer uns und doch wir selbst. Die schmerzhaften Forderungen dieses Anderen (des Kindes, des Partners, des Werks) werden dann zu jenem Faktor, der es uns mitunter ermöglichen kann, auch wenn wir selbst schon nicht mehr daran glauben, unserem ursprünglichen Versprechen treu zu bleiben – wenn vielleicht auch anders als geplant und auf Behelfswegen. Im Nachhinein wird uns dann aber klar: Die Verbindung mit dem, was über uns hinausgeht, wir können sie nur zusammen mit diesen schmerzhaften echten Krisen haben. Bezogen auf die erwähnten Beispiele: Scham, Hilflosigkeit und das Gefühl des Ungenügens mögen in Erinnerung bleiben aus Elterngesprächen über unser schwieriges und unglückliches Kind, aus Zeiten ernüchternder Konflikte in der Partnerschaft und aus dem Eindruck der Bedeutungslosigkeit des eigenen Tuns, des eigenen Werks. Doch wenn wir in unserer Hilflosigkeit schließlich eine Lösung findet, die wieder etwas weiter führt, dann können wir die Tiefe des Lebens als Verbindung zu jenem spüren, das außer uns ist und doch zu uns gehört.

Ein zweites Beispiel, die Liebe. Für sie gilt im Besonderen: Vermeiden wir den Schmerz, dann werden wir jener Tiefe des Lebens nicht teilhaftig, welche gerade die Liebe uns öffnen kann. Liebe und Schmerz, Liebe als die andere Seite des Schmerzes: Sind wir verliebt und sehnen uns nach einer ersten Berührung, dann zittern wir zugleich aus Angst vor Zurückweisung. Eine unmögliche oder eine scheiternde Liebe lässt uns zurück mit einer Trauer wie um einen Verstorbenen, der weiter einen Platz in unserem Leben beansprucht, den wir weiter leben lassen müssen, um ihn irgendwann verabschieden zu können. Unsere Eltern gehen dem Tod entgegen. Die Bitterkeit dieser Phase, die uns vor Augen führt, wie viel tiefer die Beziehung zu ihnen hätte sein können und sollen – sie wird später einem stillen Vermissen Platz machen, einem stummen Danken. All dies ist Liebe und diese Liebe verbindet uns auf solidarische Weise mit allen sterblichen Wesen. Nicht um die Liebe geht es vor allem, die wir uns erträumen als ein rundum schönes Geschenk an uns. Sondern es geht um unser eigenes Lieben, um unsere Fähigkeit und unseren Mut zu lieben. Dabei verbinden wir uns tief mit dem Ganzen – immer auch auf schmerzhafte Weise.

Keinem Klischee entsprechen müssen. Die Tiefe des Selbst

Wer bin ich wirklich und bin ich wirklich schon der, der ich eigentlich sein sollte? Entfalte ich schon alle meine Potenziale? Die Schattenseite des modernen Heilsversprechens, also der Autonomie und der Authentizität, ist die Steigerungslogik der Selbstoptimierung. Frühere Generationen mögen, etwa in der Beichte, unter der Strenge einer moralischen Fremdbefragung gelitten haben, wir leiden unter dem schlechten Gewissen, noch nicht ganz wir selbst zu sein. Doch auf diesem Schauplatz kennen wir auch Augenblicke, in denen eine große Freiheit aufbricht. Wenn wir uns von einem anderen Menschen geliebt fühlen ganz egal, wie wir sind, oder wenn wir uns auf diese Art selbst lieben können, dann haben wir die Kraft, uns jener Selbstüberforderung zu widersetzen, welche die Selbstoptimierung eigentlich ist. Jetzt öffnet sich die Tiefe des Lebens als Tiefe unseres Selbst: Ich muss keinem Klischee, keinem Idealdruck entsprechen. Grundsätzlicher sogar noch: Ich darf da sein, ohne genau sagen zu können, wer ich bin, ohne mich zu begründen oder zu rechtfertigen, ohne mich zu konstruieren oder mich clever immer wieder neu zu erfinden. Vor allem auch: Ich darf voller Widersprüche stecken, muss nicht das Bild eines einheitlichen Ganzen abgeben. In den leider seltenen Momenten, in denen wir auf diese Weise unsere eigentliche Freiheit spüren, ahnen wir auch, dass es gerade all unsere Versuche der Selbstdefinition, Selbstbegründung und Selbstoptimierung sind, welche uns diese Tiefe unseres Selbst laufend übersehen lassen. Philosophisch gesagt müssen wir unsere Nicht-Identität verteidigen, um unsere Identität zu gewinnen. Dem ‚Immer mehr‘ entkommen, das Hamsterrad verlassen.

Am Schluss steht die bittere Vermutung, dass es unsere anstrengende Hochleistungsexistenz selbst ist, die uns von der Tiefe unseres Lebens abhält. Wo übertriebene Aktivität, der Wunsch nach schmerzfreiem Erleben und Lieben und das Ziel der Selbstoptimierung vorherrschen, da bleibt der Geschehenscharakter unseres Lebens genauso verschlossen wie die Verbindung zum Ganzen wie auch die tiefste Freiheit unserer selbst. Umgekehrt gilt: Je mehr wir einen Sinn für die Tiefe des Lebens entwickeln, desto eher können wir unseren Hunger stillen unabhängig vom ‚Immer-mehr‘. Dies stärkt uns bei den Versuchen, dem Hamsterrad unseres Alltags zu entkommen. Die Steigerungslogik bietet uns eine Fülle, die uns nicht satt macht. Wir können nichts verlieren, wenn wir es statt mit dem ‚Immer mehr‘ mit der Tiefe des Lebens versuchen.
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